Alpsagen lesen

Madrisa

Nebelverhangener Alpabzug
Am Fuss des Madrisahorns erstrecken sich herrliche Alpweiden, die sich durch ihre milchreichen, würzigen Kräuter auszeichnen. Prächtig gedeiht das Vieh, das auf dieser Trift gesömmert wird...

Und vorzeiten, als die Fänggen da oben noch heimisch waren und den Hirten in der Pflege der Herden kundigen Beistand leisteten, war das die ertragreichste Alp weitherum im Prättigau. Da schlug sogar das Winterfutter von diesen Weiden bei den Kühen wunderbar gut an. So erzählt die Sage denn auch von dem schönen Wildmädchen Madrisa. Auf Saaser Alp hatte einst ein reicher Bauer ein Gut. Eines Winters hütete dort sein Sohn die Viehhabe, um den Heuvorrat uf dem Berg zu verfüttern, wie das noch jetzt vielfach geschieht und auch anderwärts in Bünden Sitte ist. Mehrere Wochen lang hauste er allein da oben und kam nur ins Dorf hinunter, wenn ihm die Vorräte ausgingen.

Als der junge Mann einmal längere Zeit ausgeblieben war, ohne etwas von sich hören zu lassen, da geriet der Vater in Besorgnis, es möchte ihm etwas Schlimmes zugestossen sein. Auch musste seiner Meinung nach das Futter in der Hütte so ziemlich zur Neige gehen. Deshalb machte er sich trotz strengen Winterwetters auf den Weg nach dem Berg, um selber nachzusehen, wie es oben gehe.

Erst am Abend spät kam er nach mühsamem Aufstieg beim Stall an, denn es hatte einen grossen Schnee geworfen. Er traf den Sohn eben beim Füttern an und merkte gleich, dass die Kühe zwar nicht schwer, aber doch fett und zart waren. Auch der Heustock war bei weitem nicht so stark zusammengeschrumpft, wie er erwartet hatte. Er hatte gerechnet, es könne kaum noch für einen Tag Futter da sein, und nun stellte er fest, dass dieses für mehr als eine Woche reichte. Und wie verwunderte sich der Alte erst über den reichen Vorrat an Milch, Butter und Käse, den er vorfand! Erstaunt sah er den Sohn an. «Wie kommt es», fragte er, «dass die Kühe so glatt und schön sind und Milch geben wie im hohen Sommer und dass der Heustock in der langen Zeit nicht kleiner geworden ist?». «Sieh, Vater», gab der Junge zur Antwort, «dort meine Madrisa, die hat das getan, sie hat mir geholfen, die Kühe zu füttern. Sie brachte Wurzeln und Kräuter mit, die mischte sie unter das Salz und gab es dem Vieh. Darum sind die Kühe so wohlgenährt und zart, und darum ist der Heustock noch so gross und so viel Molken da.» Indem er das sagte, wies er auf eine Lagerstätte, die, wie es Sitte ist, im Stall aufgerichtet war. Der Alte drehte sich um und erblickte ein wildes Mädchen von wunderbarer Schönheit. Das lag dort und schlief, und ihre langen, goldhellen Haarflechten hingen über die Bettlade heraus bis auf den Boden.

Der Vater schaute den Jungen abermals fragend an: «Wer ist denn das, deine Madrisa?» Da erwachte die Fremde, erhob sich langsam vom Lager und sprach zum Bauern: «Ach, dass du kommen musstest! Wäre das nicht geschehen, es wäre besser gewesen für euch und eure Herde. Unerkannt hätte ich sie mit deinem Sohn hier pflegen dürfen bis zum Frühling, da es wieder auf die Weide geht. Ungern kehre ich aus der trauten Hütte zurück in Wald und Fels. Aber nun muss es sein. Leb wohl, mein Freund!» und sie ging zur Türe hinaus. Ein letztes Mal wandte sie sich um und blickte wehmütig auf den Jüngling. Dann schwebte sie leichten Schrittes über den Schnee dahin, den Felsenhörnern zu, die ihren Namen tragen. Der junge Mann trieb im nächsten Sommer seine Herde wieder auf den schönen Berg, aber sooft er auch nach seiner Madrisa rief und im Wald und zwischen den Felsen nach einer Spur oder nach einem Zeichen von ihr suchte, es war umsonst. Kein Mensch hat sie je wieder gesehen.